Charta von Venedig
Internationale Charta über die Konservierung und
Restaurierung von Denkmälern und Ensembles
(Denkmalbereiche)
Venedig, 25. - 31. Mai 1964 (Fassung von 1989)
Als lebendige Zeugnisse jahrhundertealter Traditionen der Völker vermitteln die Denkmäler in der
Gegenwart eine geistige Botschaft der Vergangenheit. Die Menschheit, die sich der universellen Geltung
menschlicher Werte mehr und mehr bewußt wird, sieht in den Denkmälern ein gemeinsames Erbe und fühlt
sich kommenden Generationen gegenüber für ihre Bewahrung gemeinsam verantwortlich. Sie hat die
Verpflichtung, ihnen die Denkmäler im ganzen Reichtum ihrer Authentizität weiterzugeben.
Es ist daher wesentlich, daß die Grundsätze, die für die Konservierung und Restaurierung der Denkmäler
maßgebend sein sollen, gemeinsam erarbeitet und auf internationaler Ebene formuliert werden, wobei jedes
Land für die Anwendung im Rahmen seiner Kultur und seiner Tradition verantwortlich ist.
Indem sie diesen Grundprinzipien eine erste Form gab, hat die Charta von Athen von 1931 zur Entwicklung
einer breiten internationalen Bewegung beigetragen, die insbesondere in nationalen Dokumenten, in den
Aktivitäten von ICOM und UNESCO und in der Gründung des „Internationalen Studienzentrums für die
Erhaltung und Restaurierung der Kulturgüter" Gestalt angenommen hat. Wachsendes Bewußtsein und
kritische Haltung haben sich immer komplexeren und differenzierteren Problemen zugewandt; so scheint es
an der Zeit, die Prinzipien jener Charta zu überprüfen, um sie zu vertiefen und in einem neuen Dokument auf
eine breitere Basis zu stellen.
Daher hat der vom 25. 31. Mai 1964 in Venedig versammelte II. Internationale Kongreß der Architekten und
Techniker der Denkmalpflege den folgenden Text gebilligt:
Definitionen
Artikel 1
Der Denkmalbegriff umfaßt sowohl das einzelne Denkmal als auch das städtische oder ländliche Ensemble(Denkmalbereich), das von einer ihm eigentümlichen Kultur, einer bezeichnenden Entwicklung oder einemhistorischen Ereignis Zeugnis ablegt. Er bezieht sich nicht nur auf große künstlerische Schöpfungen, sondernauch auf bescheidene Werke, die im Lauf der Zeit eine kulturelle Bedeutung bekommen haben.Artikel 2
Konservierung und Restaurierung der Denkmäler bilden eine Disziplin, welche sich aller Wissenschaften und
Techniken bedient, die zur Erforschung und Erhaltung des kulturellen Erbes beitragen können. Zielsetzung
Artikel 3
Ziel der Konservierung und Restaurierung von Denkmälern ist ebenso die Erhaltung des Kunstwerks wie die
Bewahrung des geschichtlichen Zeugnisses. Erhaltung
Artikel 4
Die Erhaltung der Denkmäler erfordert zunächst ihre dauernde Pflege.Artikel 5
Die Erhaltung der Denkmäler wird immer begünstigt durch eine der Gesellschaft nützliche Funktion. Ein
solcher Gebrauch ist daher wünschenswert, darf aber Struktur und Gestalt der Denkmäler nicht verändern.
Nur innerhalb dieser Grenzen können durch die Entwicklung gesellschaftlicher Ansprüche und durch
Nutzungsänderungen bedingte Eingriffe geplant und bewilligt werden.Artikel 6
Zur Erhaltung eines Denkmals gehört die Bewahrung eines seinem Maßstab entsprechenden Rahmens. Wenn
die überlieferte Umgebung noch vorhanden ist, muß sie erhalten werden und es verbietet sich jede neue
Baumaßnahme, jede Zerstörung, jede Umgestaltung, die das Zusammenwirken von Bauvolumen und
Farbigkeit verändern könnte.Artikel 7
Das Denkmal ist untrennbar mit der Geschichte verbunden, von der es Zeugnis ablegt, sowie mit der
Umgebung, zu der es gehört. Demzufolge kann eine Translozierung des ganzen Denkmals oder eines Teiles
nur dann geduldet werden, wenn dies zu seinem Schutz unbedingt erforderlich ist oder bedeutende nationale
oder internationale Interessen dies rechtfertigen.
Artikel 8
Werke der Bildhauerei, der Malerei oder der dekorativen Ausstattung, die integraler Bestandteil eines
Denkmals sind, dürfen von ihm nicht getrennt werden; es sei denn, diese Maßnahme ist die einzige
Möglichkeit, deren Erhaltung zu sichern.Restaurierung
Artikel 9
Die Restaurierung ist eine Maßnahme, die Ausnahmecharakter behalten sollte. Ihr Ziel ist es, die ästhetischen
und historischen Werte des Denkmals zu bewahren und zu erschließen. Sie gründet sich auf die
Respektierung des überlieferten Bestandes und auf authentische Dokumente. Sie findet dort ihre Grenze, wo
die Hypothese beginnt. Wenn es aus ästhetischen oder technischen Gründen notwendig ist, etwas
wiederherzustellen, von dem man nicht weiß, wie es ausgesehen hat, wird sich das ergänzende Werk von der
bestehenden Komposition abheben und den Stempel unserer Zeit tragen. Zu einer Restaurierung gehören
vorbereitende und begleitende archäologische, kunstund geschichtswissenschaftliche Untersuchungen.
Artikel 10
Wenn sich die traditionellen Techniken als unzureichend erweisen, können zur Sicherung eines Denkmals
alle modernen Konservierungs und Konstruktionstechniken herangezogen werden, deren Wirksamkeit
wissenschaftlich nachgewiesen und durch praktische Erfahrung erprobt ist.Artikel 11
Die Beiträge aller Epochen zu einem Denkmal müssen respektiert werden: Stileinheit ist kein
Restaurierungsziel. Wenn ein Werkverschiedene sich überlagernde Zustände aufweist, ist eine Aufdeckung
verdeckter Zustände nur dann gerechtfertigt, wenn das zu Entfernende von geringer Bedeutung ist, wenn der
aufzudeckende Bestand von hervorragendem historischen, wissenschaftlichen oder ästhetischen Wert ist und
wenn sein Erhaltungszustand die Maßnahme rechtfertigt. Das Urteil über den Wert der zur Diskussion
stehenden Zustände und die Entscheidung darüber, was beseitigt werden darf, dürfen nicht allein von dem
für das Projekt Verantwortlichen abhängen.
Artikel 12
Die Elemente, welche fehlende Teile ersetzen sollen, müssen sich dem Ganzen harmonisch einfügen undvom Originalbestand unterscheidbar sein, damit die Restaurierung den Wert des Denkmals als Kunst und
Geschichtsdokument nicht verfälscht.
Artikel 13
Hinzufügungen können nur geduldet werden, soweit sie alle interessanten Teile des Denkmals, seinen
überlieferten Rahmen, die Ausgewogenheit seiner Komposition und sein Verhältnis zur Umgebung
respektieren.
Denkmalbereiche
Artikel 14
Denkmalbereiche müssen Gegenstand besonderer Sorge sein, um ihre Integrität zu bewahren und zu sichern,
daß sie saniert und in angemessener Weise präsentiert werden. Die Erhaltungs und Restaurierungsarbeiten
sind so durchzuführen, daß sie eine sinngemäße Anwendung der Grundsätze der vorstehenden Artikel
darstellen.
Ausgrabungen
Artikel 15
Ausgrabungen müssen dem wissenschaftlichen Standard entsprechen und gemäß der UNESCO Empfehlung
von 1956 durchgeführt werden, welche internationale Grundsätze für archäologische Ausgrabungen
formuliert.
Erhaltung und Erschließung der Ausgrabungsstätten sowie die notwendigen Maßnahmen zum dauernden
Schutz der Architekturelemente und Fundstücke sind zu gewährleisten. Außerdem muß alles getan werden,
um das Verständnis für das ausgegrabene Denkmal zu erleichtern, ohne dessen Aussagewert zu verfälschen.
Jede Rekonstruktionsarbeit soll von vornherein ausgeschlossen sein; nur die Anastylose kann in Betracht
gezogen werden, das heißt, das Wiederzusammensetzen vorhandener, jedoch aus dem Zusammenhang
gelöster Bestandteile. Neue Integrationselemente müssen immer erkennbar sein und sollen sich auf das
Minimum beschränken, das zur Erhaltung des Bestandes und zur Wiederherstellung des
Formzusammenhanges notwendig ist.
Dokumentation und Publikation
Artikel 16
Alle Arbeiten der Konservierung, Restaurierung und archäologischen Ausgrabungen müssen immer von der
Erstellung einer genauen Dokumentation in Form analytischer und kritischer Berichte, Zeichnungen und
Photographien begleitet sein. Alle Arbeitsphasen sind hier zu verzeichnen: Freilegung, Bestandssicherung,
Wiederherstellung und Integration sowie alle im Zuge der Arbeiten festgestellten technischen und formalen
Elemente. Diese Dokumentation ist im Archiv einer öffentlichen Institution zu hinterlegen und der
Wissenschaft zugänglich zu machen. Eine Veröffentlichung wird empfohlen.
Mitglieder der Redaktionskommission für die Internationale Charta über die Konservierung und Restaurierung von Denkmälernwaren:Piero Gazzola (Italien), Präsident; Raymond Lemaire (Belgien), Berichterstatter; J. Bassegoda Nonell (Spanien); Luis Benavente(Portugal); Djurdje Boscovic (Jugoslawien); Hirsoshi Daifuku (UNESCO); P. L. de Vrieze (Niederlande); Harald Langberg(Dänemark); Mario Matteucci (Italien); Jean Merlet (Frankreich); Carlos Flores Marini (Mexico); Robert Pane (Italien); S. C. J.Pavel (Tschechoslowakei); Paul Philippot (ICCROM); Victor Pimentel (Peru); Harold Plenderleith (ICCROM); Deoclecio Redig deCampos (Vatikan); Jean Sonnier (Frankreich); Francois Sorlin (Frankreich); Gertrud Tripp (Österreich); Jan Zachwatovicz (Polen);Mustafa S. Zbiss (Tunesien).Deutsche Übersetzung 1989 auf der Grundlage des französischen und englischen Originaltextes und vorhandener deutscherFassungen durch: Ernst Bacher (Präsident des ICOMOS Nationalkomitees Österreich), Ludwig Deiters (Präsident des ICOMOSNationalkomitees Deutsche Demokratische Republik), Michael Petzet (Präsident des ICOMOS Nationalkomitees BundesrepublikDeutschland) und Alfred Wyss (Vizepräsident des ICOMOS Nationalkomitees Schweiz)